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Frühlingsliebe

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Eine Erzählung von Georg Heim, Illustration von Maria Landgraf

Der Tag verlor seine Farben. Die Sonne verschwand, und das Abendrot verflatterte am feurigen Himmel. Es wurde dunkel. Und der Duft der Dämmerung schien sich fern hinter den Wäldern zu verlieren, wie ein Lied, das schweigt, wie ein Kuss, der stirbt. – Der See vor mir bewahrte, wie eine große Blume, noch für eine Weile die Blässe des rosafarbenen Lichtes, den Widerschein einer hohen Wolke, die einsam im Blauen dahinsegelte.

Illustration: Maria Landgraf

Illustration: Maria Landgraf

Ich lag oben auf einem Hügel des Parkes unter ein paar Büschen verborgen. Einige Meter darunter, mir zur Hälfte zugewandt, befand sich eine Ruhebank. Und nun wurde ich Zeuge einer seltsamen Szene.

Ein buckliger Mann kam am See entlang, ein entsetzlicher Zwerg. Die Hälfte seines Gesichtes schien ihm außerdem einmal von einem Geschwür zerfressen zu sein. Denn man sah noch überall große Narben, die weißen Häute, die sich über fressenden Wunden bilden. Er ging einige Male vor der Bank hin und her, stand einen Augenblick still, ging wieder einige Schritte, sah nach der Uhr. – Er hatte das Gebaren eines Verliebten, der auf seine Geliebte wartete. Er zog einen Brief aus seiner Tasche und las ihn. Dann drückte er auf den Namen am Schlusse einen langen Kuss. Kein Zweifel, das Wesen da unten liebte, es war ein Verliebter. Aber wer sollte ihn denn lieb haben, gab es denn jemand, der diese Liebe erwiderte? Ich war schon geneigt, an irgendeine Perversität zu glauben, als ich um die Ecke des Weges ein Weib biegen sah, das auf den Zwerg zuging. Er hatte sie schon erkannt, das Entzücken schoss in sein Gesicht, er lief ihr entgegen und begrüßte sie, strahlend vor Freude.

Ich konnte der Frau nun gerade ins Gesicht sehn. Sie war vielleicht fünfzig bis sechzig Jahre alt, eisgrau schon, verwelkt, aber eine dicke Schicht Schminke lag auf ihren unzähligen Runzeln. Es war eine jener schrecklichen Huren, die sich auf keine Straße mehr wagen können, weil sie befürchten müssen, mit Steinen verjagt zu werden. Nun sitzen sie nachts auf den Bänken eines Parks oder lauern in einem dunklen Gange, alten Spinnen gleich, die zwischen den Bäumen ihre Netze ausspannen. – Aber die Szene da unten auf der Bank hatte nichts von Gewerbsmäßigkeit an sich. Die beiden saßen nebeneinander, mit verschlungenen Händen. Sie versenkten die Augen ineinander, sie neigten sich zueinander und küssten sich.

Nun erzählten sie sich etwas mit flüsternder Stimme, sie lachten, sie küssten sich wieder. Und ich hörte, wie die alte Hure sagte: »Du bist ja das einzige auf der Welt, was ich noch liebe. Ach, du kleiner Lilly.« Und er erfasste ihre Hand, während ein Lächeln unsagbarer Zärtlichkeit über seine Narben lief, die in unzähligen kleinen Hautfalten zitterten.

Georg Heym (1887–1912 ) gilt als einer der wichtigsten Lyriker des frühen literarischen Expressionismus.


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